In Berlin-Weißensee, in den Jahren 1946/49, waren Eva Schwimmer und auch schon Heiliger die Lehrer. Dieses Nebeneinander erscheint im nachhinein, in Kenntnis alles dessen, was Joachim Dunkel schaffen sollte, entschieden signifikant. Da begegnete ihm einerseits die Zeichnerin (vor allem auch Illustratorin) Eva Schwimmer - und da war andererseits der Bildhauer Heiliger, der damals auf eine bereits deutlich zur Abstraktion tendierende kompakte plastische Form hinzielte. Dunkel, das können wir heute, im Rückblick, sagen, folgte seinem Stern, als er sich von diesen beiden so unterschiedlich gearteten, in so unterschiedlichen Bahnen sich bewegenden Künstlern angezogen fühlte. Zwei Seelen wohnten - jedoch nicht "ach" (wie Goethes Faust klagt) - in seiner Brust. Er wurde ein Plastiker, der eine eigene Welt von Menschen- und auch Tier-Gestalten (darunter mit Vorliebe: Pferde) erschuf und des Weiteren, mit oder ohne Auftrag, die eindrucksvollsten Porträtköpfe modellierte. Gleichzeitig aber war ihm immer das Zeichnen ein tief verwurzeltes Bedürfnis. Es wuchs im Lauf der Jahre und Jahrzehnte in kräftigen Schüben ein graphisches Oeuvre von überwältigendem Umfang und Themenreichtum heran. In diesem Oeuvre zeigt sich Dunkel als Erzähler - als ein ebenso sensibler wie kraftvoller, spontaner und vitaler Gestalter von Stoffen, die der Bibel, der antiken Mythologie, der Fabel, dem Märchen und anderer Überlieferung entstammen. Eine Vielzahl von Zeichnungen zu dem alten Tier-Epos "Reineke Fuchs", das Dunkel nicht nur in Goethes Nachdichtung las, wurde 1986 in einer schönen Publikation des Berliner Verlags Arenhövel veröffentlicht. Dieses Buch widmete der Künstler Eva Schwimmer, womit er sich also vor seiner einstigen Lehrerin dankbar verbeugte und zugleich bekannte, dass ihm wie ihr das Zeichnen etwas Unverzichtbares sei - ein Ventil nämlich für seine Phantasie-Begabung parallel zum plastischen Schaffen.
Bestimmte Szenen aus den eben zitierten Quellen ließen den Künstler nicht los - weshalb er sie immer wieder aufgriff und immer neu, mit wechselnden Akzenten, zeichnete. Sieht man genauer hin, so werden in diesen verschiedenen Themen zentrale Leitmotive erkennbar. Es geht um die immer aktuellen Stichworte Gewalt und Leiden, List und Verführung, Begehren, Liebe und Tod - kurz um eine die menschliche Urnatur und das menschliche Schicksal reflektierende Weltsicht.
In ganz besonderem Maße faszinierte Dunkel der Stiermensch Minotaurus. An ihm exemplifizierte der Zeichner die ganze Palette menschlicher Leidenschaften und Leiden. Er zeichnete ihn entspannt in arkadisch anmutender Idylle, gleichsam en famille mit einem Minotauruskind, sodann als Liebenden oder als Bedrohten, leidend und sterbend. Auch bindet der Künstler diese Gestalt in Szenen ein, in denen sie eigentlich (dem jeweils zugrundeliegenden "Drehbuch" nach) nichts zu suchen hätte: z.B. als einen Bewunderer weiblicher Schönheit in der Rolle des Paris oder grausam handelnd als Schinder des Marsyas; sogar in Darstellungen des Sündenfalles kann er erscheinen, und zwar anstelle Adams neben Eva, die mit dem Apfel oder mit einem Totenschädel (!) in Händen gezeigt ist. Oder wir sehen den Kopf des Minotaurus (nicht denjenigen Johannes des Täufers) in einer Schale, die die verführerische Salome triumphierend in ihren Händen hält.
Derart kombinatorisch ist Joachim Dunkel wieder und wieder mit "seinen" Stoffen, seinen Lese-Erlebnissen, umgegangen. Er nahm sie zeichnend auf, um sie sogleich, seinem Phantasie- und Erzähltrieb folgend, zu erweitern und fortzuspinnen - dies aber wohlgemerkt immer im Einklang mit der Kernaussage seiner jeweiligen Quelle. Daß es sich bei diesen kühnen Exkursionen nicht um Bildung und Wissen, sondern um ein temperamentvolles, ja elementares Nacherleben handelt, bleibt dem Betrachter der Blätter keinen Augenblick zweifelhaft. Wie Dunkel die uralten Geschichten erlebte und mit Eigensinn füllte - ohne Umwege, drastisch, unverhohlen, ganz ohne falsche Scham - so vermochte er sie auch zu vermitteln! Zwei Wesenszüge seiner Kunst sind in diesem Zusammenhang zu betonen: der lebhafte, je später desto öfter ins Furiose tendierende Duktus seines Zeichnens einerseits und eine schon kurz berührte Eigentümlichkeit seiner Figurenwelt andererseits. Man erlebt nach, wie Dunkel seine Szenerien aus der inneren Vorstellung in die Anschaulichkeit herüberholte; man wird mitgerissen durch das dabei angeschlagene Tempo, und man bewundert, dass bei aller - oft durchaus gewagten - "Entgrenzung" der Formen die Gefahr der Willkür, der bloßen Rasanz, der Gestaltlosigkeit vermieden wurde.
Zu Dunkels Figurenwelt gehören zahlreiche Mischwesen, halb Tier, halb Mensch. Dabei kombinierte der Künstler überwiegend den männlichen Leib mit einem Tierkopf; Pan- und Kentaurfiguren mit menschenähnlichem Kopf hingegen treten eher selten auf. Dergestalt ist ihr Handeln als ein triebgesteuertes verdeutlicht. Der Künstler war von den Möglichkeiten, die sich ihm mit solchen Verbindungen eröffneten, sichtlich fasziniert, ja besessen. Eine Vielzahl von Einzelstudien - Porträts gleichsam - der unterschiedlichsten Phantasiegestalten bezeugt zusammen mit den erzählenden Blättern eine denkbar souveräne zoologisch-anatomische Kombinatorik, anders gesagt: eine stupende Fähigkeit, in allen Mischungen von Tier und Mensch organisch glaubwürdig, lebens- und ausdrucksvoll zu sein. Dass dies gelang, ist nicht zuletzt einer scharfen und immer wachen Beobachtungsgabe zu verdanken. Sie schlug sich gelegentlich in faszinierenden Naturstudien nieder - so etwa in einer Serie von großformatigen farbigen Zeichnungen, die einen toten Bussard zeigt.
Wir verstehen nun nochmals besser, warum der Künstler von Geschichten angezogen wurde, in denen Tiermenschen geschildert sind - sei es der Minotaurus oder der zum Hirsch gewordene Actaeon. Aber auch in den unzähligen Blättern zum "Reineke Fuchs"-Epos, in dem ja - wie überall in der Fabel - Tiere exemplarisch anstelle der Menschen handeln, lief es bei Dunkel auf die Umbildung in Mischwesen hinaus. Anders, und doch vergleichbar, verfuhr er mit seinen trojanischen Kriegern. Er präsentierte sie mit Gesichtshelmen und erreichte auf diese Weise eine unheimliche Verfremdung: grausame, von keiner Empfindung bewegte Masken kommen uns vor Augen.
So unbestreitbar also das Zeichnen für Joachim Dunkel ein Arbeitsfeld ganz eigenen Gewichts war - es gibt doch (und wie könnte es auch anders sein) über Einzelmotive wie den Minotaurus oder den Vogelmenschen hinaus deutliche Verbindungen hinüber zu den Plastiken. Zunächst ist in diesem Zusammenhang festzuhalten, daß der Künstler in seinen erzählenden Blättern doch immer die Figuren dominant zur Geltung gebracht und alles Ambiente wenn überhaupt dann zurückhaltend einbezogen hat. Er erzählt eben in der Weise eines Gestalten bildenden, wesentlich auf Gestalten konzentrierten Plastikers! Andererseits fällt aber auch auf, daß in Dunkels Plastiken mitunter der Erzähler sich bemerkbar macht. Da sind die höchst eigenwilligen, kühn gewichteten, in weiter Skala, zwischen vollrunden Körpern und graphischen Ritzungen sich entfaltenden Reliefs mit Themen, die uns in Kenntnis des zeichnerischen Werkes nicht überraschen. Wir finden die Vertreibung aus dem Paradies und das Urteil des Paris, die Apokalyptischen Reiter und Kreuzigungsszenen. Und wir begegnen weiterhin Zweiergruppen, die zwar keine Handlung, kein wie immer auch bewegtes Geschehen zeigen, aber doch mit der Welt der Dunkelschen Zeichnungen eng verbunden sind. Mars und Venus, Europa und der Stier, das Mädchen und der Tod sehen wir dargestellt - und zwar auf eine sehr ungewöhnliche Weise. Die genannten Paare schweben vor Scheiben- oder Sichelformen, die wir als Gestirne lesen, und über Wolkenballungen, die wiederum mit Baumgebilden verbunden sind. So erscheinen sie dem Betrachter erd-enthoben, bezwingend ins Märchenhafte entrückt.
In Werken der späten 1990er Jahre tritt uns der Zusammenhang zwischen dem Zeichnen und dem plastischen Schaffen Dunkels noch einmal ganz besonders deutlich entgegen: Der Künstler schuf sich ein Plateau, eine "Spielfläche", um darauf - inspiriert durch Homers "Ilias" - ein erschreckendes Schlachtfeld vor Augen führen zu können. Wir sehen auf den ersten Blick zwischen hingestreckten Leichen ein mit letzter Kraft sich emporstemmendes Pferd und einen in die Knie gebrochenen Kämpfer. Dann, nach und nach, bei genauem Zusehen, enthüllt sich uns das ganze grausame Ausmaß des hier vergegenwärtigten Geschehens. Wir nehmen zerstückelte, durch Schnitte verstümmelte Leiber wahr. Und zwei totem-artige Male, die die Szene hoch überragen, suggerieren ihrerseits eine archaische, von elementarer Vernichtungskraft erfüllte Welt. Das derart eindringlich inszenierte "Stichwort Troja" steht für den Krieg als eine nicht endende Selbstgefährdung des Menschen. Dunkel hatte diese (wie eingangs erwähnt) als junger Soldat selbst erleben müssen; und zur Zeit der Entstehung seiner Plastik, im Balkankrieg, war das düstere Faktum Krieg wieder ganz besonders nahe gerückt. Wie sehr dem Künstler die Troja-Thematik auf den Nägeln brannte, zeigt eine Reihe von Einzelfiguren, von Kriegern zu Fuß und zu Pferde, die parallel zu dem Schlachtfeld im kleinen Format als Terracotten oder für den Guß modelliert wurden.
In der Troja-Szene wie in diesen Statuetten zeigt sich der Endpunkt von Dunkels Entwicklung in der Plastik. Wir haben - in Analogie zu seinem graphischen Duktus - eine den Schaffensprozeß buchstäblich als "Handschrift" erkennbar lassende Gestaltungsweise vor Augen. Diesen temperamentvollen, ausdrucksstarken Stil entwickelte der Künstler seit den 1960er Jahren. In den Porträtköpfen manifestiert er sich als pure Sensibilität und Nervigkeit. Anfangs hingegen hatte Dunkel - nicht im Kielwasser, vielmehr auf eigene Weise parallel zu seinem Lehrer Heiliger - auf das kompakte, straffe, geglättete Volumen hingearbeitet. Dieser strenge Begriff von Plastik aber konnte ihm nicht lange genügen. Er brach ihn auf, weil seine Vitalität und Spontaneität es so und nicht anders forderten. Nur über eine offene, reich differenzierte Oberfläche ließ sich verwirklichen, was ihm vorschwebte. Und auch das Arbeiten mit Farbakzenten - eine Parallele wiederum zu den Zeichnungen - bedeutet ja nichts anderes als das Hindrängen auf ein Mehr an Ausdruck, an pulsierender Lebendigkeit. Dass dies mit Naturalismus nicht das Geringste zu tun hat, braucht wohl kaum eigens betont zu werden. Wie bezeichnend, dass Dunkel seine torsierten Figuren nicht selten durch Flächenformen, geschnitten aus Pappe oder Blech, ergänzte, um auf diese Weise, mit überraschendem Zugriff, deren Leibhaftigkeit zu konterkarieren. Der Künstler wollte gewiß die sinnliche Ausstrahlung der von ihm modellierten Körper - gleichermaßen jedoch immer auch eine idolhaft anmutende Fremdheit, Unvertrautheit und Entrücktheit. Man sehe dazu nur seine so variantenreich bewegten Frauengestalten!
Zusammenfassend: In Joachim Dunkel haben wir einen Künstler vor Augen, der traditionsbewusst - aber niemals traditionshörig - abseits von allem "Innovatismus" seinen sehr besonderen Weg gegangen ist. Was er hinterließ, verdient Bewunderung, weil es uns substantiell bereichert.